Waldorfpädagogik und Salutogenese

Verfasst von Gisela King

Rudolf Steiner äußerte sich in seinem ersten Vortrag, den er für die Lehrer der ersten Freien Waldorfschule in Stuttgart hielt, über die Größe der Aufgabe, die auf alle Beteiligten zukam:

Meine lieben Freunde, wir kommen mit unserer Aufgabe nur zurecht, wenn wir sie nicht bloß betrachten als eine intellektuell-gemütliche, sondern als eine im höchsten Sinne moralisch-geistige.

(Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik. Vorträge über Erziehung. Erster Vortrag, Stuttgart, 21. August 1919)

 

Rudolf Steiner hat immer wieder betont, wie wichtig ihm der gesundende Aspekt der Waldorfpädagogik war:

Vorerst möchte ich Sie aber darauf aufmerksam machen, daß ja unsere ganze Waldorfschul-Pädagogik einen therapeutischen Charak­ter trägt. Die ganze Unterrichts- und Erziehungsmethode selbst ist ja daraufhin orientiert, gesundend auf das Kind zu wirken. Das heißt, wenn man die pädagogische Kunst so einrichtet, daß in jeder Zeit der kindlichen Menschheitsentwickelung das Richtige getan wird, dann ist in der Erziehungskunst, in der pädagogischen Behandlung der Kinder etwas Gesundendes.

(Lehrerkonferenzen mit den Lehrern der Freien Waldorfschule in Stuttgart 1919 bis 1924, Zweiter Band. Die Pädagogische Grundlage der Waldorfschule. Konferenz vom Mittwoch 14. Februar 1923, 18 Uhr)

 

Was im kindlichen Alter in die Seele aufgenommen wird, das erscheint im Erwachsenen als gesunde oder kranke Körperverfassung. Denn im Kinde überträgt sich jeder seelische Impuls in gesunde oder kranke Atmung, in gesunde oder kranke Zirkulation, in gesunde oder kranke Verdauungstätigkeit. Was da Krankes entsteht, fällt oft am Kinde noch nicht auf. Aber der Keim wächst mit dem Menschen heran, und manche chronische Krankheit der vierziger Jahre des Menschen ist das Ergebnis der Seelenverbildung im ersten oder zweiten Lebensjahrzehnt.

(Die Methodik des Lehrens und die Lebensbedingungen des Erziehens. GA 308, Vortrag vom 11.4.1923. Dornach)

 

In seiner Ansprache an die zukünftigen Waldorflehrer am 20. August 1919 in Stuttgart betonte Rudolf Steiner, welche Bedeutung und welche Auswirkungen er der Gründung der ersten Waldorfschule zumaß:

Heute Abend soll nur etwas Präliminarisches gesagt werden. Die Waldorfschule muss eine wirkliche Kulturtat sein, um eine Erneuerung unseres Geisteslebens der Gegenwart zu erreichen.

Das Gelingen dieser Kulturtat ist in Ihre Hand gegeben. Viel ist damit in Ihre Hand gegeben, um, ein Muster aufstellend, mitzuwirken. Viel hängt davon ab, dass diese Tat gelingt. Die Waldorfschule wird ein praktischer Beweis sein für die Durchschlagskraft der anthroposophischen Weltorientierung. Sie wird eine Einheitsschule sein in dem Sinne, dass sie lediglich darauf Rücksicht nimmt, so zu erziehen und zu unterrichten, wie es der Mensch, wie es die menschliche Gesamtwesenheit erfordert. Alles müssen wir in den Dienst dieses Zieles stellen.

Rudolf Steiner war sich dabei sehr bewusst, dass auch Kompromisse notwendig sein würden. Wie sollte man mit den zu erwartenden Konflikten umgehen?

Zwei widersprechende Kräfte sind dabei in Einklang zu bringen. Auf der einen Seite müssen wir wissen, was unsere Ideale sind, und müssen doch noch die Schmiegsamkeit haben, uns anzupassen an das, was weit abstehen wird von unseren Idealen. Wie diese zwei Kräfte in Einklang zu bringen sind, das wird schwierig sein für jeden einzelnen von Ihnen. Das wird nur zu erreichen sein, wenn jeder seine volle Persönlichkeit einsetzt. Jeder muss seine volle Persönlichkeit einsetzen von Anfang an.

Wir müssen uns bewusst sein der großen Aufgaben. Wir dürfen nicht bloß Pädagogen sein, sondern wir werden Kulturmenschen im höchsten Grade, im höchsten Sinne des Wortes sein müssen. Wir müssen lebendiges Interesse haben für alles, was heute in der Zeit vor sich geht, sonst sind wir für diese Schule schlechte Lehrer. Wir dürfen uns nicht nur einsetzen für unsere besonderen Aufgaben. Wir werden nur dann gute Lehrer sein, wenn wir lebendiges Interesse haben für alles, was in der Welt vorgeht. Durch das Interesse für die Welt müssen wir erst den Enthusiasmus gewinnen, den wir gebrauchen für die Schule und für unsere Arbeitsaufgaben. Dazu sind nötig Elastizität des Geistigen und Hingabe an unsere Aufgaben.