Warum wollen wir nun daran etwas ändern?

An der Freien Waldorfschule Karlsruhe beginnt der Unterricht seit Jahren um 7.45 Uhr. Man hat sich daran gewöhnt, sich darauf eingerichtet – vielleicht auch damit abgefunden.

Wesentliche Gesichtspunkte, die uns leiten:

Die folgende Aufzählung basiert auf der Auswertung von vielen Unterlagen und Untersuchungen, die wissenschaftlich anerkannt sind. Auch über die draus zu ziehenden Schlussfolgerungen besteht weitgehende Einigkeit unter den Wissenschaftlern.

  • Jeder Mensch hat seinen eigenen, individuell unterschiedlichen Tagesrhythmus (Biorhythmus). Dieser Rhythmus wird von sog. inneren Uhren vorgegeben, die in unseren Zellen verankert sind. Man kann Menschen in verschiedene Chronotypen einteilen: Es gibt Frühaufsteher (Morgentyp, Lerche), Spätaufsteher (Abendtyp, Eule) und diejenigen, die mit ihrem inneren Rhythmus irgendwo dazwischen liegen. Diese Chronotypen sind genetisch festgelegt und lassen sich durch äußere Faktoren nicht beeinflussen.
  • Der Chronotyp eines Menschen macht im Laufe des Lebens Veränderungen durch. Kleine Kinder sind extreme Morgentypen. Mit Einsetzen der Pubertät verschiebt sich der Chronotyp nach hinten in Richtung Abendtyp. Diese Verschiebung beginnt etwa im Alter von 9 Jahren und hat im Alter von ca. 20 Jahren ihren Extrempunkt erreicht. Danach verschiebt sich der Chronotyp wieder in den mittleren Bereich, um im Alter wieder in Richtung Frühtyp zu wandern. Diese Verschiebung passiert bei jedem Menschen, aber je nach individueller Veranlagung (s. genetisch festgelegter Chronotyp) in unterschiedliche starkem Maße.
  • Der Mensch kann erst einschlafen, wenn er müde ist, also ein gewisser Schlafdruck aufgebaut ist. Das Einsetzen von Müdigkeit hängt mit dem Schlafhormon Melatonin zusammen. Die Bildung von Melatonin setzt gegen Abend ein und erreicht in der Nacht ihren Höhepunkt. Da die Melatoninbildung lichtabhängig ist, wird sie mit dem morgendlichen hellen Licht gestoppt, man wird munter.
  • Die Verschiebung des Chronotyps führt dazu, dass Jugendliche später müde werden und dementsprechend später ins Bett gehen. Untersuchungen haben ergeben, dass der Anteil der Abendtypen von Klassenstufe 5 bis Klassenstufe 9 von 8% auf 35% ansteigt und der Anteil der Morgentypen in der gleichen Zeit sinkt (von 32% auf 8%). (Vollmer 2015) Organisatorische Maßnahmen wie früher ins Bett gehen helfen nicht, da die Bildung des Schlafhormons bis zu 2 Stunden später als beim Erwachsenen einsetzt und die Schüler dementsprechend einfach nicht einschlafen können – sie können also nichts für ihr Schlafdefizit.
  • Ein guter Schlaf ist die Grundlage dafür, einerseits ausgeglichen und entspannt durch den Tag gehen zu können und sich andererseits konzentriert mit Neuem beschäftigen zu können. Ausreichend langer und tiefer Nachtschlaf ist die Voraussetzung für die Verankerung und die Umwandlung von Gedächtnisinhalten, so dass man zukünftig leichter lernen und das neu erworbene Wissen auch auf andere Bereiche übertragen kann: aus implizitem Wissen wird explizites Wissen. Dieses Festigen von Lerninhalten während der Nachtruhe passiert bei Kindern offenbar sogar effektiver als bei Erwachsenen. Die Waldorfpädagogik arbeitet sehr bewusst mit der Nacht und dem Schlaf. Die Unterrichtsinhalte sollen einmal „durch die Nacht gehen“, bevor am nächsten Tag in neuer Weise damit umgegangen werden kann.
  • Das Schlafbedürfnis von Kindern liegt bei 9-10 Stunden, das von Jugendlichen bei 8-9 Stunden. Alle Schüler müssen aufgrund der bisherigen frühen Anfangszeit um 7.45 Uhr gleich früh aufstehen, unabhängig davon, wann sie einschlafen konnten. Damit sinkt die Schlafdauer von Jugendlichen an Schultagen mit zunehmendem Alter immer mehr ab, da die Schüler aufstehen müssen, obwohl sie noch nicht ausgeschlafen haben. Jugendliche sammeln im Laufe der Schulwoche ein Schlafdefizit an. In der 9. Klasse kann dieser sog. soziale Jetlag mehr als 4 Stunde betragen. (Vollmer 2012) Lehrer aus der Oberstufe berichte von müden Schülern während des Hauptunterrichtes, die zum Teil sogar einschlafen. Schüler, die erst in der zweiten Hälfte des Hauptunterrichtes wach werden, werden aber auch schon in der ersten Klasse beobachtet.
  • Ein Leben gegen den eigenen Rhythmus und langfristig mangelnder Schlaf können zu erheblichen Gesundheitsproblemen führen, die auch langfristige Erkrankungen einschließen. Mögliche Folgen: Nachlassen von Reaktionsvermögen und Gedächtnisleistung, geringere Stresstoleranz und erhöhte Reizbarkeit, Depressionen, aber auch Herz-Kreislauf-Erkrankungen und erhöhtes Diabetes-Risiko.
  • Die maximale Aufmerksamkeitsspanne ist je nach Alter unterschiedlich lang. Bei jüngeren Schülern beträgt sie ca. 20 Minuten, ab 12-14 etwa 30 Minuten. Bei Jugendlichen und Erwachsenen lässt sich ein Aufmerksamkeits-Zyklus von ca. 120 Minuten feststellen, der als Basis-Ruhe-Aktivitäts-Zyklus (BRAC) bezeichnet wird. Die Beobachtungen zeigen, dass nach einer Arbeitsphase von maximal 90 Minuten eine längere Pause von 30 Minuten notwendig ist. Eine Unterrichtseinheit sollte daher maximal 90 Minuten betragen, was derzeit in etwa einer Doppelstunde entspricht, oder in zwei Einheiten á 45 Minuten aufgeteilt werden. Danach sollte eine längere Pause folgen (mindestens 15 Minuten).
  • Ein entscheidendes Prinzip des Waldorflehrplans liegt in der Abstimmung der Unterrichtsinhalte und Unterrichtsformen auf die Prozesse kindlichen Lernens und die Stufen menschlicher Entfaltung in Kindheit und Jugend. Der Unterricht ist von Schulbeginn an auf das Ziel innerer menschlicher Freiheit hinorientiert.

(Quelle: website Bund der Freien Waldorfschulen).

  • Die Waldorfpädagogik geht in ihrer Erziehungsmethode von einem Menschenbild aus, das jeden Menschen als eine sich selbst bestimmende geistige Persönlichkeit betrachtet. Auf dieses geistige Freiheitswesen (Künstler- oder auch Liebewesen) hat der Lehrer bzw. der Erzieher keinen direkten Einfluss. Er kann nur die Entwicklungsbedingungen entsprechend förderlich oder auch hemmend der sich aus sich selbst entwickelnden Persönlichkeit anbieten

(Quelle: Leitbild der Freien Waldorfschule Karlsruhe).

  • Zu diesen Entwicklungsbedingungen gehört auch, dass Schüler jeden Alters im Einklang mit seinem Chronotyp leben und lernen können.
  • Die Leistungsfähigkeit von Morgentypen ist schon am frühen Vormittag gegeben, während Leistungsfähigkeit im Tagesverlauf ansteigt. Viele Studien (auch aus Deutschland) haben gezeigt, dass Abendtypen durch die in Deutschland üblichen frühen Anfangszeiten der Schule benachteiligt werden, was sich auch deutlich auf die schulischen Leistungen auswirkt.
  • Wissenschaftler empfehlen, dass bestimmt Fächer, in denen Sprachbewusstheit und räumliches Vorstellungsvermögen im Vordergrund stehen, später am Vormittag unterrichtet werden sollten. Das gilt vor allem für Mathematik und Naturwissenschaften.